DER TONMEISTER MIT DEM AUDIOGEN – EIN NACHRUF AUF JÜRG JECKLIN
«Ich bin ein einfacher Mensch», betonte Jürg Jecklin gerne in Gesprächen über sinnvolle Audiolösungen. Ihn interessierte die Aufnahme- und die Wiedergabeseite, denn er war ein Universalist, in beiden Gebieten unheimlich belesen, aber auch an praktischen Lösungen interessiert und dabei höchst kreativ. Folgerichtig entwickelte er für beide Sparten aufsehenerregende Geräte. So im Jahre 1971 den ersten offenen Kopfhörer «Jecklin Float», als präzises Kontrollinstrument bei Aufnahmen in Konzertsälen, wo keine Tonregie vorhanden war. 1980 folgte die «Jecklin-Scheibe», eine rein zweikanalige Aufnahmeeinheit als Antithese zur damals grassierenden Polymikrofonie bei Klassikaufnahmen. Seine Ansätze waren unkonventionell, aber eben radikal vereinfacht und auf den Punkt entwickelt.Jürg Jecklin war nicht nur Tonmeister. Er prägte mit seinen Innovationen die Radio- und Audiowelt und vermittelte mit Sachverstand und Witz tontechnisches
Wissen. Im letzten November ist er nach kurzer, schwerer Krankheit 83-jähriggestorben.
VON MARKUS THOMANN

So besteht der Kopfhörer aus zwei riesigen, elektrostatischen Membranen, die vor den Ohren «floaten» – anstatt wie bei anderen Kopfhörern zwei Ohrmuscheln, die mit kleinen Lautsprechern den Schall ins Ohr drücken. Jecklin berücksichtigte das natürliche Hören des Menschen und übertrug es auf die Wiedergabe mit Kopfhörern. Konstruktiv löste er dies mit einer formal bestechend einfachen Idee: mit einem gebogenen,
breiten Plexiglas-Band, das beide Membranen verbindet und frei auf dem Kopf aufliegt.
Seine Scheibenidee ist nicht minder originell und wurde im letzten AAAHeft ausführlich vorgestellt. Die erste Version bastelte er an einem regnerischen Sonntagnachmittag am Küchentisch. Die ersten Aufnahmen zeigten ihm schon, dass der Ansatz funktioniert, nämlich den Klangkörper in seiner Akustik authentisch einzufangen. Auch die ersten Floats bastelte er am Küchentisch. Er begründete die Wahl der elektrostatischen Membranen damit, dass er so den ganzen Hörer eigenhändig mit Material aus Migros, Coop und dem Baumarkt herstellen konnte. Saran-Folien und Schlossfit aus der Tube, mit denen er diese leitfähig machte, waren schliesslich die Wundermittel für den richtigen Klang.
Bei solchen Erklärungen schwang Koketterie mit, denn Jecklin war auch Perfektionist. Die Wahl des Elektrostaten
steht dafür exemplarisch, wie diejenige< der besten Kondensatormikrofone mit Kugelcharakteristik für seine Scheibe. Es musste genau ein spezifischer
Typ sein, um seine hohen Qualitätsanforderungen zu erfüllen. Auch beim elektrostatischen Float-Kopfhörer verwendete er nur die besten Übertrager. Diese waren leider so schwer und teuer, dass sie beim damaligen Serienmodell nicht verwendet wurden. Nur er hörte stets damit. Diese Haltung, wenige, aber beste Zutaten zu verwenden, durchdrangen sein Leben. In der Küche bevorzugte er einfache Gerichte: Spaghetti mit Tomatensauce, aber nur mit Zutaten eines bestimmten Lieferanten, die er als Bergeller im nahen Italien kaufte. Und er ärgerte sich über moderne Verbrenner-Autos, die nur dank einer Unmenge an elektronischen Steuerungen funktionieren würden. Sie würden totgeregelt. Er fuhr einen Saab aus besseren Zeiten vor der Jahrtausendwende, doch begeisterte ihn auch der neue Trend zu Elektroautos. «Der Elektromotor ist sehr viel einfacher als der Ottomotor, benötigt kein Mehrgang-Getriebe und ist verschleissärmer ». Er hatte schon ein kleines Gefährt für den Alltag auf seiner Wunschliste.
RADIO-STORYS
Die Leidenschaft für Audiotechnik und Musik erfasste Jürg Jecklin schon in seinen Teenagerjahren. In seinem Zimmer in Chur bastelte er Radioempfänger und kaufte früh einen Plattenspieler und Jazzplatten. Bald wurde er vom Virus des Films und des Film-Tons erfasst. Da die Kinos in Chur technisch
veraltet waren, trampte er regelmässig nach Zürich. Im Kino Apollo mit den neuen Breitbild-Filmformaten mit Mehrkanalton
entdeckte er eine neue Welt. Zu dieser Zeit war das die Avantgarde. Das aufkommende Fernsehen hat ihn dagegen nie interessiert. Audiotechnisch und von der Bildwirkung war es nur ein Abklatsch der Kinowelt. Seinen Traumberuf kannte er bald: vor der Maturaprüfung gab er als Berufsziel Tonmeister an, was sein Klassenlehrer als Schande für die Kantonsschule empfand. Jecklin vermutete, dass dieser dachte, er wolle als Töpfer arbeiten! Jedenfalls liess er sich davon nicht beirren und mit etwas Glück ergatterte er 1961 als 23-Jähriger nach einem Praktikum eine Anstellung im Radiostudio Basel. Weil ihm eine Tonmeisterausbildung fehlte, schickte ihn sein Förderer Max Adam nach Detmold zur berühmten Tonmeisterschule. Dort bestand er leider die Aufnahmeprüfung nicht und schwor sich, diese kein zweites Mal zu wiederholen. Stattdessen bastelte er sich seine Ausbildung zusammen: Er studierte vier Semester am Basler Konservatorium und besuchte musikwissenschaftliche Vorlesungen an der Uni Zürich. Anschliessend absolvierte er den internen Toningenieurlehrgang der ARD in Nürnberg und machte einen Abschluss als ARD-Toningenieur und -Tonmessingenieur. Dass er nie ein Tonmeisterdiplom aus Detmold aufhängen konnte, bekümmerte ihn nicht. Auch dass seine Mitgliedschaft im prestigeträchtigen Verband deutscher Tonmeister (VDT) 1963 wegen des fehlenden Detmolder Diploms abgelehnt wurde, wunderte ihn nicht.
Mit spitzbübischem Lächeln nahm er aber zu seinem 80. Geburtstag vom selben Verband die Ehrenmedaille entgegen. Die 30 Jahre als Tonmeister beim Radio Basel nutzte er konsequent, um neue technische Möglichkeiten auszuloten, nicht immer zur Freude seiner Vorgesetzten. So nahm er unerlaubterweise in Stereo auf. Das Schweizer Radio sendete bekanntlich noch lange in Mono. Jahre später setzte er die Idee einer Konzertübertragung in Quadrofonie im Radio durch, wofür er die zwei Sender DRS1 und DRS2 nutzen konnte. Dazu empfahl er eine besondere Aufstellung der hinteren Lautsprecher, die er anhand einer Studie eines japanischen Instituts entdeckte.
Schon früh erkannte er die Möglichkeiten von Digitalaufnahmen und preschte auch hier vor. Ohne die stete Unterstützung durch seinen damaligen Vorgesetzten Roman Flury, hätte er die vielen spannenden und innovativen Projekte nicht umsetzen können Dabei war für ihn das aufnahmetechnische Ergebnis nur als Projekt bedeutend. War die Arbeit getan, interessierte sie ihn nicht mehr. Er selbst besass zu Hause keine selbstgemachten Aufnahmen. Für ihn waren der Prozess der Aufnahme und die Zusammenarbeit mit den Musikern das Lebenselixier. So konnte er stundenlang schräge Geschichten aus dieser Zeit zum Besten geben und man hing ihm an den LippenPROFESSOR IN WIEN
Jürg Jecklin verliess Radio Basel noch vor seiner Pensionierung und amtete von 1998 bis 2004 als Professor für Theorie der Elektroakustik an der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) in Wien. Bis 2016 lehrte er dort als Dozent für Beschallung und Aufnahmeanalyse.
Vor seinem Amtsantritt fragte er seinenBruder Andrea um Rat, denn er besass keine pädagogische Ausbildung. Andrea war Direktor der Pädagogischen Hochschule in Chur und gab seinem Bruder folgende Antwort: «Man muss fachlich kompetent sein, die Studierenden ernst nehmen und für sie da sein. Den Rest macht man mit persönlichem Stil.» Diesen hatte Jürg Jecklin sehr wohl und vor allem konnte er die Studierenden begeistern. Den Studierenden lagen die Scripts in schriftlicher Form vor, also mussten sie während den Lektionen nichts mitschreiben. Das schaffte Raum für Spontaneität und freie Entwicklung des Stoffs. Ein grosses Anliegen war Jecklin, zu vermitteln, wie man als Tonmeister mit Musikern umgeht. Denn wer mit den Musikern menschlich nicht klarkomme, werde beruflich scheitern. Und noch etwas gab er den Studierenden mit: Sie sollten lernen, genau hinzuhören. Das sei die elementare Fähigkeit eines Tonmeisters. Jürg Jecklin ging in dieser Arbeit auf, denn er mochte die Menschen und sie ihn. Er konnte zwar an seinen vielfältigen Projekten in der Abgeschiedenheit seines Hauses in Vicosoprano im Bergell arbeiten, doch nach einer gewissen Zeit schien ihm die Decke auf den Kopf zu fallen. Deshalb nahm er die langen Reisen nach Wien in seinem Saab noch lange gerne auf sich, immer mit ein paar Dosen Red Bull im Gepäck!WISSEN VERMITTELN
Jürg Jecklin publizierte sein Leben lang zahlreiche Fachartikel und zwei Bücher, im Jahr 1967 «Lautsprecherbuch» und 1980 «Musikaufnahmen». Er hielt viele Vorträge, unter anderem im Klangschloss. Das online-Magazin avguide. ch hat zwei davon in voller Länge aufgezeichnet: «Von Edison bis Surround» und «die Geschichte der Konzertsäle». Sie sind auf unserer aaa-switzerland. ch-Homepage verlinkt. Der «einfache Mensch» Jürg Jecklin sprach und schrieb immer in klaren Worten. Er hatte die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in wenigen, präzisen Sätzen darzustellen. Damit diese auch im Gedächtnis haften bleiben, verband er die Sätze gerne mit einer einprägsamen Story, nutzte ein Sprichwort und gerne auch ein deftiges Wort. Das war politisch nicht immer korrekt, aber witzig. Diejenigen, die einen seiner Vorträge im Klangschloss hören durften, werden sich erinnern. Vor kurzem führte Ernst Müller einige längere Interviews mit Jürg Jecklin im Hinblick auf ein Buchprojekt über sein tonmeisterliches Leben. Ernst konnte mir deshalb wertvolle Informationen liefern. Wenn alles gut geht, wird das Buch noch in diesem Jahr erscheinen. Wir werden im Heft darüber berichten. Wer Wissen so einprägsam vermitteln kann, muss sich auch darum bemühen. Jecklins Forschergeist war ungebrochen und er suchte unermüdlich nach interessanten Schriften und neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Tontechnik. Selbst vergessene Geräte und Konzepte interessierten ihn. Den grossen Entwicklungsschub hätte die Audiotechnik in den 60er und 70er Jahren gemacht. Es sei eine sinnliche Audiokultur gewesen, im Gegensatz zur heutigen Arbeit mit Maus und Tastatur. Manche neuen Entwicklungen verfolgte er deshalb mit Skepsis. Sie erinnerten ihn an die Entwicklungen des totgeregelten Verbrennungsmotors. Er beklagte den Verlust der Sinnlichkeit, des Erlebens der Aufnahmeräume und mokierte sich über die Atmo-Rahmsauce, die gerne über polymikrofonierte und zusammengeschnittene Klassik-Produktionen geleert würde. Für ihn blieben mitgeschnittene Live-Aufnahmen in einem akustisch hervorragenden Saal die heute noch gültige Aufnahmeform. Bei Studioproduktionen hatte er während seiner langen Karriere nie das Gefühl, dass «der liebe
Gott durch den Saal gelaufen ist», bei Live-Aufnahmen immerhin vielleicht eine Handvoll Male. Nun ist der liebe Jürg in den Aufnahmehimmel entschwunden
und wir hier unten hoffen, dass sein Wirken noch lange anhalten und inspirieren möge.Quelle: ANALOGUE AUDIO ASSOCIATION - www.aaa-switzerland.ch